20. Dezember 2003
Weihnachten. Eine Zeit der Ruhe, eine Zeit der Besinnlichkeit. Ein alter pausbäckiger Mann in einem roten Mantel, der Geschenke an kleine Kinder mit strahlenden Augen verteilt, die um einen geschmückten Tannenbaum herum toben. Draußen liegt Schnee, der die weite Landschaft mit einem weißen Überzug wie aus Puderzucker bedeckt hat. Plärrende Stimmen singen im Hintergrund von Nächstenliebe, Frieden und Barmherzigkeit. Oh, du fröhliche… und so weiter. Idylle pur.
Wirklich? Nun, wer die seltsamen Sitten und Gebräuche der Mitglieder unseres RSCT kennt, der wird sicherlich ahnen, dass unsere alljährliche Weihnachtsfeier keineswegs nach diesem Muster ablaufen konnte. Handfeste Rollenspielkost stand stattdessen auf dem Programm. Oh, wie langweilig, mag da so manch voreiliger Leser sich denken, denn Rollenspielkost ist doch schließlich genau dass, was wir unseren Mitgliedern Woche für Woche auftischen. Genau aus diesem Grund wollten wir ein paar Systeme ausprobieren, die wir sonst wenig oder überhaupt nicht beachteten. Der „Tag des ungespielten Rollenspiels“ stand auf dem Programmpunkt.
Als kleine Widergutmachung für mein Fernbleiben von der letztjährigen Weihnachtsfeier – welches in einem gewissen Kausalzusammenhang mit einer ähnlichen Festivität am Vorabend im Rathaus und dem damit verbundenem…. äh… Unwohlsein steht – hatte ich mich angeboten, eine Runde „Der letzte Exodus“ zu meistern. Das Regelwerk dieses Systems hatte ich auf der Berliner Odyssee gewonnen und deshalb war es auch eine Ehrensache, meinen kleinen Teil zu unserer Weihnachtsfeier beizutragen. Die Spieler waren von dem System allgemein und vom Abenteuer sehr angetan, doch dazu später.
Nachdem leider nicht alle Mitglieder wie vereinbart bereits um 13.00, sondern erst um 14.00 im Bonhoefferhaus eintrudelten, wurde das übliche Rahmenprogramm samt Verzehr von mitgebrachtem Kuchen etc. schnell über die Bühne gebracht. Ich muss zugeben, dass ich bei dem Gedanken an die Zusammensetzung meiner Heldengruppe ein leicht flaues Gefühl im Magen hatte. Mit den Spielern konnte das Abenteuer steigen und fallen. So war ich auch nicht gerade unglücklich, als sich für meine Runde mit Daniel, Claus, Carsten, Julia und der lange verschollene Quitschy (Zitat: „Dunkle Haare, Bart, etwas fülliger – du musst Gölli sein!“) anmeldeten. Allesamt also Spieler, die über eine langjährige Erfahrung verfügten und auch rollenspielerisch nicht gerade unbedarft waren.
Großes Aufatmen meinerseits.
Achtung: Ich möchte dieses Abenteuer gerne noch einmal mit einer anderen Gruppe leiten. Wer Interesse hat, daran teilzunehmen, sollte mit dem Lesen an dieser Stelle aufhören, um sich nicht des ganzen Spiespasses zu berauben.
Von vornherein wollte ich vorgefertigte Charaktere austeilen, hatte aber keine Lust, einfach Heldendokumente auszuteilen. Aus diesem Grund bediente ich mich eines kleines Kunstgriffes, der sich meines Erachtens bei einem System wie „Der letzte Exodus“ sehr gut anbietet. Ich spielte nacheinander fünf verschiedene Musikstücke ein, die allesamt die jeweiligen Helden etwas näher charakterisierten. Die Spieler sollten nur anhand der Musik – andere Informationen gab es nicht – ihre Charaktere aussuchen.
Somit kam es zu folgenden Zusammenstellungen (in Klammern ist jeweils die passende Musik angegeben): Carsten erwischte Pater Johannes, den katholischen Geistlichen und das gute Gewissen der Gruppe (Bach – 5.brandenburgisches Konzert). Claus wählte Mary Shanachi, eine steinreiche Reggae-Sängerin (Junior Kelly – Love so nice), während Quitschy mit LeRoy Jones (2Pac – Ja Rule Diss) einen schwarzen Gangleader aus den Slums spielte. Julia – der Zufall wollte es wohl so – schlüpfte in die Rolle von Julie van Crane, einem technickbegeisterten Mädel aus der New Yorker Technoszene. Übrig blieb Daniel, der Dexter McCoy darstellte (Avalanche – Frontier Psychiatrist), einen kleinen verstörten Jungen, der sich als mathematisches Genie herausstellte, aber auch ein dunkles Geheimnis hütete (O-Ton aus dem Lied: „That boy needs therapy!“).
Das Abenteuer begann in einem düsteren Hinterhof, wo die Charaktere am Tag nach der Millenniumsnacht zu sich kamen. Das Problem dabei: Alle litten unter eine Amnesie und außer ihren Namen und den paar Gegenständen, die sie am Körper trugen, wussten sie überhaupt nichts. Um die Spieler auch gleich mit den Regeln vertraut zu machen und ihnen keine Verschnaufpause zu gönnen, schlossen sie auch gleich Bekanntschaft mit einigen üblen Straßengangstern, die sie ausrauben wollten. Das Leben in New York ist nun einmal hart…
Als sich die Gruppe danach erst einmal orientieren musste, kam die zweite Besonderheit zum Tragen, die ich mir ausgedacht hatte: Die sogenannten „Erinnerungsfetzen“. Immer dann, wenn die Helden sich ein wenig ausgeruht oder etwas besonderes getan hatten, teilte ich beschriftete Karten aus, auf denen den Helden einige private Informationen aus ihrer Vergangenheit offenbart wurde. Dies konnten triviale, aber nützliche Dinge sein wie z.B. Marys EC-Karten-Nummer, die Namen einiger Freunde oder Verbindungen zu örtlichen Hehlern. Einige Informationen wirkten auf den ersten Blick sinnlos, sollten aber im Verlaufe des Abenteuers aber noch eine gewichtige Rolle spielen.
Nachdem die Helden sich erst einmal in einem Restaurant ein wenig aufgewärmt hatten, erfuhren sie anhand eines Zeitungsartikels relativ schnell von den Gerüchten, dass in der vergangenen Nacht angeblich neue Messiasse aufgetaucht seien und die katholische Kirche dies vertuschen wollte. Man begab sich in eine New Yorker Disco, wo einige Freunde von Julie anzutreffen sein sollten. Da wir diese Disco durch extrem laut eingespielte Musik „ausspielten“, konnten sich die Charaktere hier nur schreiend verständigen. Trotzdem brachte man die Anschrift von Julies Wohnung in Erfahrung, die zumindest kurzfristig Ausgangspunkt für die Jagd der Helden nach ihrer Erinnerung werden sollte.
Dass sie scheinbar beobachtet wurde, merkte die Gruppe schnell, als ein Hinweis eines Informanten an der Tür klebte. Dieser bat sie, sich zu einer bestimmten Uhrzeit mit ihm in einer bestimmten Bar zu treffen. Gesagt, getan, doch dieses Treffen sollte anders verlaufen als erwartet: Bevor er die Bar erreichte, wurde der Informant getötet und konnte den Helden im Sterben liegend nur noch zuraunen: „Der Hüter… Ratzinger will es vertuschen. Der Schlüssel in meiner Wohnung…“.
Anhand seines Ausweises konnte die Wohnung des Mannes ausfindig gemacht werden. Die Helden fuhren dorthin und fanden u.a. diverse Aufzeichnungen zu Kardinal Ratzinger und einen kleinen Schlüssel mit der Aufschrift „Ciampino 4832“. Gerade als die Helden die Wohnung verlassen wollten, bemerkten sie, wie einige Männer vor dem Gebäude hielten und ins Treppenhaus liefen. Über die Feuerleiter entkamen sie knapp und dank zerstochener Reifen ihrer Gegner blieb ihnen auch eine Verfolgungsjagd quer durch die Stadt erspart.
Da die Gruppe annehmen musste, dass ihre Verfolger nun auch aufgrund des KFZ-Kennzeichens Julies Adresse bekannt werden konnte, musste man einen anderen Unterschlupf finden. LeRoy nutzte seine Kontakte und brachte so die Adresse seiner Wohnung in Erfahrung – ein mieses Loch mitten in der Bronx. Doch für müde Helden reicht so etwas vollkommen aus, so dass man hier die erste ruhige Nacht überhaupt verbrachte.
Der nächste Tag wurde mit allerlei Recherchen verbracht. Zu Kardinal, Ratzinger fand man heraus, dass er als Oberhaupt der heiligen Kongregation, der Nachfolgeorganisation der Inquisition, eine recht… sagen wir einmal „engstirnige“ Meinung vertritt, was das Auftauchen von neuen Messiassen betrifft. Ein Gegner, mit dem man sich also besser nicht anlegen sollte – doch leider hatte man das bereits. Über einen Kontaktmann Pater Johannes’ fand man auch heraus, dass „Ciampino“ der Name des römischen Flughafens ist und es sich bei dem Schlüssel damit offensichtlich um einen Schließfachschlüssel handelte. Auf ging es also nach Rom. Nun, hierfür musste sich der steckbrieflich gesuchte LeRoy zwar erst einen falschen Pass besorgen und mit einer lächerlichen Perücke verkleiden, aber solche Dinge sind für echte Helden Kleinigkeiten.
In Rom angekommen öffnete man das Schließfach. Dies enthielt nur einen kleinen Zettel, auf dem ein Bild abgebildet war. Auf der Rückseite stand: „Findet den Hüter. Er weist euch den Weg. Ein Freund“. Unter Zuhilfenahme einer freundlichen Kunststudentin und eines Reiseführers fanden die Helden heraus, dass es sich bei dem Bild um die „Erschaffung des Adam“ handelte, welches an der Decke der sixtinischen Kapelle abgebildet ist.
Der Vatikan war also die nächste Station auf der Suche der Helden. Man nahm an einer Führung teil und Mary nutzte alle ihre weiblichen Reize, um den Touristenführer für einen Moment abzulenken. Da die sixtinische Kapelle gerade renoviert wurde und überall Baugerüste herumstanden, war es ein leichtes, direkt an das besagte Bild heranzukommen. Hier fand man eine kleine verschlüsselte Botschaft, welche von der Gruppe jedoch relativ leicht entschlüsselt werden konnte: „Zeigt Demut vor dem Herrn, auf dass euch der Weg gewiesen werden.“.
Demut zeigen? Nichts einfacher als das, dachten sich unsere Helden und knieten allesamt vor dem Altar nieder. Prompt erschien über dem Altar ein holografisches Zahlenfeld, auf dem eine Kombination eingegeben wurde. Auch wenn Julie die am Anfang des Abenteuers gegebene Information für einen Scherz gehalten hatte, so erwies sich „die Antwort auf die Frage aller Fragen“ in diesem Falle als die richtige Kombination. So gelangte die Gruppe in ein unterirdisches Gewölbe, wo sie tatsächlich von niemand anderem als dem „Hüter“ erwartet wurden. Dieser gab ihnen zu verstehen, dass sie tatsächlich Apostel der neuen Messiasse seien und lehrte sie, wie sie zwischen dieser Welt und der Parallelwelt Eden wechseln konnten.
In Eden fand dann das Finale des Abenteuers statt, doch zunächst einmal durften die Helden feststellen, dass sie in Eden keineswegs mehr diejenigen waren wie in der normalen Welt. Jeder von ihnen hatte einen besonderen „Deitypus“ angekommen – besser, größer und in einigen Fällen auch VIEL stärker. Ich teilte also neue Heldendokumente aus und schon eröffneten sich der Gruppe vollkommen neue Möglichkeiten. Aus dem kleinen Dexter wurde ein zähnefletschender Werwolf (mit dem kleinen Nachteil „Ernährt sich von Menschenfleisch…“), Mary wurde zur leibhaftigen Göttin Aphrodite, Julie zu einem formwandelnden Hologramm, LeRoy zu einem echten Feuerelementar („Burn baby, burn!“) und Pater Johannes wies mit seiner beachtlichen Flügelspannweite immense Ähnlichkeit mit einem echten Engel auf.
Der Hüter offenbarte ihnen auch gleich, warum die hierher gebracht wurden. Emily Vasquez, eine der neuen Messiasse, war in der Millenniumsnacht den Dunklen Horden in die Hände geraten und befinde sich derzeit in einem Lager in der düsteren Welt Gehenna. Da dadurch das Gleichgewicht zwischen Hell und Dunkel in Gefahr war, musste sie schnellstmöglich befreit werden. Eindringlich warnte der Hüter die Gruppe noch vor den sogenannten E.V.E.s, den Echelon-Verteidigungseinheiten, Robotern, die nicht zufällig wie maskierte Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg aussahen.
Mit einem Ätherschiff näherten sich die Helden dem Lager, welches in seinem Aufbau dem KZ Birkenau entsprach. Tatsächlich konnte man mit einer List Emily Vasquez bzw. ihren Deitypus Oubliette ausfindig machen. Wie genau es die Helden schafften, sie zu befreien, würde hier sicherlich den Rahmen sprengen, also sei auf eine nähere Schilderung der Ereignisse verzichtet. Nur soviel: Mit viel Ideenreichtum und der Möglichkeit, zwischen den Welten zu wechseln, gelang es schließlich, wohlbehalten aus dem Lager wieder herauszukommen. Am Ende musste Dexter noch sein dunkles Geheimnis lüften… tja, und die Welt war gerettet.
Fürs erste zumindest.
Ingesamt muss ich sagen, dass mir das Abenteuer als Meister sehr viel Spaß gemacht hat und ich denke, dass es den Spielern ebenso ergangen ist. Gerade die nicht alltäglichen Elemente wie der Einsatz von Musik oder die Erinnerungsfetzen haben das Abenteuer interessant gemacht. Hinzu kam, dass wirklich alle Helden ihre Charaktere rollenspielerisch sehr gut verkörperten und es oftmals wirklich ein Spaß war, den Helden einfach nur bei ihren Diskussionen zuzuhören. Auch die Tatsache, dass die meisten Helden im Vorwege eigentlich nicht wussten, was sie erwartet („Äh… ja, da geht es irgendwie um Science Fiction und Fantasy…“), machte die gesamte Suche nach den eigentlichen Hintergründen interessant.
Nicht so ganz pünktlich um 19.00 Uhr endete dieses Abenteuer und der Meister setzte sich zusammen mit Walter und einigen anderen Leuten nach Elmshorn ab, wo an diesem Abend die Rockabilly Mafia ihres alljährliches Konzert gab. Ebenfalls eine sehr nette Sache, die erst am nächsten Morgen um 6.00 Uhr im Brodericks endete. Aber das ist eine andere Geschichte…
Sven